Cover
Titel
Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland


Autor(en)
Uekötter, Frank
Erschienen
Stuttgart 2022: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephen Milder, Department of European Languages and Cultures, Rijksuniversiteit Groningen / Rachel Carson Center for Environment and Society, München

Das Interesse Frank Uekötters an der Atomkraft, dem Thema der jüngsten Monographie des eindrucksvoll produktiven Umwelthistorikers, stammt aus seiner Schulzeit. Sowohl ein Plakat, das die Vorteile der Atomkraft zeigte, als auch kritische Gespräche mit seinem Physiklehrer beeindruckten den jungen Uekötter in den 1980er-Jahren. Diese Auseinandersetzungen haben deutliche Spuren in seinem Vorgehen im 2022 erschienenen Buch Atomare Demokratie hinterlassen. Denn Uekötter versteht die „nukleare Kontroverse in der Bundesrepublik“ als „Diskursprojekt, in dem Menschen mit unterschiedlichen Meinungen miteinander redeten und damit einen mühsamen gesamtgesellschaftlichen Lernprozess initiierten“ (S. 101). Diese Interpretation bildet die wichtigste Stütze für seine Behauptung, dass dieses Diskursprojekt eine „Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie“ (S. 10) sei. Und hier kommen wiederum die Debatten zwischen einem Gymnasiasten und seinem Physiklehrer ins Spiel, denn solche „Mikroprozesse“ bildeten den „entscheidende[n] Trumpf“ der bundesdeutschen Demokratie, der letztendlich „Eskalationen bei Protesten, nuklearen Risiken, Forschungsprojekten und Bauprogrammen“ (ebd.) verhindert habe. Es war, anders gesagt, eine gemeinsam erarbeitete, nüchterne Vorgehensweise, die die atomare Geschichte der Bundesrepublik kennzeichnete.

Wenngleich Uekötter diese Mikroprozesse herausstreicht, widmet er sich in diesem Buch dem Großen und Ganzen der atomaren Kontroverse in der BRD. Chronologisch verläuft seine Erzählung von der Kernforschung der Nachkriegsjahre bis zum geplanten (und zur Zeit der Veröffentlichung des Buches noch festgesetzten) deutschen Atomausstieg am 31. Dezember 2022. Das Buch behandelt ein breites Spektrum von Akteuren: Es geht um die Forscher, Stromkonzerne, Politiker und nicht zuletzt um die Anti-Atomdemonstranten. Auch wenn manche dieser Gruppierungen von Männern dominiert waren, wirft die fast totale Abwesenheit weiblicher Akteure Fragen auf, nicht zuletzt nach der Bedeutung von Geschlechterrollen für die bundesdeutsche Atomdebatte. Nichtdestotrotz bleibt die Breite der Erzählung eine eindeutige Stärke des Buches. Vor allem die Nebendarstellung der Entwicklungen in der Technikgeschichte der Atomkraft und der politischen Debatten um die Verwendung der Technologie bereichert die bereits florierende Historiographie der atomaren Kontroverse.

Auch wenn Uekötters Erzählung über einen langen Zeitraum erstreckt, kann man sie gut in drei chronologische Blöcke unterteilen, die mit drei verschieden Formen der atomaren Demokratie korrespondierten. Der erste Teil reicht bis in die 1960er-Jahre. Damals gab es noch keine Kernkraftwerke, die kommerziell Strom erzeugen konnten, also drehte sich die „[b]undesdeutsche Atomgeschichte vor allem um Forschung und Entwicklung und allerlei Pläne“ (S. 102). Dies war für Uekötter die Zeit der „nuklearen Macher“ (S. 95), das heißt von Männern, die aus Spitzenpositionen in der Forschung oder bei den großen Stromkonzernen das Nuklearprojekt gestalteten. Uekötter versteht diese Männer und ihren Einsatz für die Atomkraft als ein Spezifikum der Bundesrepublik der Nachkriegszeit: „Sie lebten das Leistungsethos der Wirtschaftswunderjahre, verbunden mit der Überzeugung, dass es für die Wiederauferstehung aus Trümmern einer besonderen Kraftanstrengung bedurfte“ (S. 96). Es waren die Anstrengungen dieser Einzelnen, die für Uekötter die atomare Demokratie der Nachkriegsjahre ausmachten. Denn die Demokratie an sich war eine Art „Dschungel“, der nur deshalb nicht zur „Totalblockade“ der Atompolitik führte, weil es „immer wieder Männer gab, die eine Vorstellung hatten, wo es langgehen konnte“ (S. 90).

Der zweite Teil von Uekötters Geschichte ist gekennzeichnet durch eine Erweiterung des Spektrums der Akteure, die im bundesdeutschen Atomprojekt mitmischten. Insofern wurde also die Atomenergie erst in den 1970er-Jahren zum „Problem der Demokratie“ (S. 44). Zum einen begann der Bau von Kernkraftwerken jetzt erst richtig. Bereits vor der Ölkrise wurde zwischen 1970 und 1972 der Bau von sieben Reaktoren begonnen. Nicht zuletzt wegen dieses regelrechten Baubooms ereigneten sich in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre mehrere große Protestaktionen auf Bauplätzen oder in deren unmittelbarer Nähe. In diesem Jahrzehnt fanden aber auch weitab der Baugelände viele Debatten und Diskussionen zur Nutzung der Kernkraft und zur atomaren Zukunft der Bundesrepublik statt. Wegen der verschiedenen Hintergründe und des breiten Spektrums von Teilnehmer*innen können die 1970er-Jahre als die Blütezeit des bundesdeutschen Diskursprojekts „Atomenergie“ bezeichnet werden. Diese Diskurse sind für Uekötter die eigentliche atomare Demokratie. Er beschreibt sie als „Mühlen“, die die nukleare Kontroverse „auf politisch handhabbare Dimensionen zerkleinert[en]“ (S. 298).

Nach der Geschäftigkeit der 1970er-Jahre kennzeichnete „eine Art qualifizierter Stillstand“ (S. 46) die 1980er-Jahre, die aber schließlich für den Atomausstieg von großer Bedeutung waren. Denn wie vor allem Uekötters Ausführungen zur Entwicklung der Atomtechnik zeigen, mangelte es wegen des Stillstands allmählich an gut ausgebildeten Ingenieuren und Fachkräften. Die 1980er- und 1990er-Jahre werden zugleich als eine Zeit der sich verhärtenden Fronten beschrieben, in der sich die demokratische Gesprächskultur zur Atomenergie ihrem Ende neigte. Bis in die späten 1990er-Jahre war einfach „alles Relevante längst gesagt“ (S. 251). Uekötter versteht das Ende dieses Gesprächs als Teil einer Transformation der atomaren Demokratie, die in die Identitätspolitik führte. Obwohl sachliche Gespräche zu Atomthemen in der breiten Öffentlichkeit immer seltener wurden, schafften es die diskussionsbereiten Akteure in der Regierung Schröder und bei den großen Stromkonzernen Ende der 1990er-Jahre, den Atomausstieg auszuhandeln; ein Ereignis, das Uekötter als Meisterstück der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie gilt. In dieser letzten Phase der atomaren Kontroverse entstanden also deutliche Spannungen zwischen der öffentlichen „Atomdemokratie“ einerseits, den Aushandlungen hochrangiger Politiker und von Repräsentanten der Stromkonzerne andererseits.

Uekötters Versuch, eine Geschichte der atomaren Kontroverse, die das „Zusammenspiel von Investitionen, Innovationen und Interventionen, das dem bundesdeutschen Atomkonflikt seine besondere Bedeutung verlieh“ (S. 100), zu schreiben, ist sehr gut gelungen. Das Buch ist von seiner charakteristisch facettenreichen, aber trotzdem gut lesbaren Erzählweise geprägt. Als synthetisches Werk, das so viele Aspekte zusammenbringt, aber trotzdem die Übersicht nicht verliert, ist Atomare Demokratie ein bedeutender Beitrag zur Geschichte der Kernkraft in Deutschland.

Als Geschichte der Demokratie lässt das Buch allerdings Fragen offen. Es bleibt für die Mikroprozesse, die für seine These der gelungenen atomaren Demokratie so bedeutend sind, leider zu wenig Platz. In einem am Ende hinzugefügten „Historiographische[n] Nachwort“ kritisiert Uekötter scharf genau die Art „quellengesättigter Spezialstudien“ (S. 307), die solche Mikroprozesse erläutern und interpretieren können. Statt in die atomare Demokratie hineinzubohren, um ihren Wandel und ihre Charakteristika genauer darstellen zu können, verwendet Uekötter eine Reihe verschiedene Metaphern, die den „Organismus der bundesdeutschen Demokratie“ (S. 298) als ein Wesen für sich beschreiben. Solch eine Metaphorik unterstützt Uekötters Argumentation, dass die Demokratie an sich als Gewinnerin aus der Atomkontroverse hervorgegangen ist. Sie ist aber auch ein Beweis für seine Neigung, Menschen, die sich um die Risiken der Atomkraft sorgten, sprich „die Anti-Atombewegung“, als externe Größe zu verstehen, die nicht aus der Mitte der bundesdeutschen Demokratie kommen konnte. Ebenso waren für ihn die „nuklearen Macher“ der 1960er-Jahre keine Gestalter der Demokratie, sondern nur Pfadfinder, die durch den Dschungel der Demokratie streiften. Was eigentlich die atomare Demokratie vorantrieb, und warum sie sich im Laufe der Zeit so deutlich veränderte, lässt er offen.